Donnerstag, 17. September 2009

Mondaffe aß die Wolken auf - Kapitel 7

Kapitel 7

Als man nach einigem suchen einen Pflaumenbaum gefunden hatte, beschloss man den Wein daraus zu erschaffen, der nun heute getestet werden sollte. Marcello konnte sich an rundere Bouquets erinnern, doch das warme Gefühl kam ihm schnell und Vincent machte die einschlägige Erfahrung, die ihm Marcello nicht vorenthalten wollte. Als sich an diesem Abend das Gespräch nicht mehr vermeiden lies, dem Marcello bisher auszuweichen versuchte, ließ dieser sich darauf ein. Vincent wollte von der Welt erfahren, aus deren Existenz sich Marcello so verlustbereit davonstahl. Aus dem Abstand den Marcello inzwischen dazu hatte (immerhin eine Ewigkeit plus x) kam ihm die Auseinandersetzung damit nicht mehr so anstrengend vor. Trotz allem vermittelte er Vincent ein reichlich erbärmliches Bild der Menschheitsgeschichte, der Evolution, der Philosophie. Vincent stellte sich eine winzige blaue Kugel vor, auf der insektenartig, dümmliche Wesen sinnlos umherwuseln, jeder für sich in einer Sicht der Dinge eingesperrt, die so subjektiv ist, dass keine Kommunikation irgend ein Ergebnis zeigt. Nicht dass das für Vincent armselig klingt, nach seinem Werdegang ist er fasziniert trotz allem. Es verlangt ihn die erwähnten Künste zu sehen, die Musik zu hören, die Bücher, Filme, das alles begeistert ihn.
Im Laufe der Jahre entsteht eine Schüler-Lehrer-Beziehung zwischen den beiden und Vincents Bild von Marcellos ExExistenz wird realistischer. Die beiden schlafen auch miteinander, mehr aus der Not, Marcello sehnt sich nach einer Frau, Vincent liebt seit damals die fleischige Dame vom Bahnsteig. Er hatte sich einmal auf die Suche nach ihr gemacht, hat aber nicht einmal den Bahnsteig wieder gefunden.
Seit ein paar Wochen ist es um die Höhle, die jetzt sehr bewohnt wirkt und von bestellten Feldern und Gärten umgeben ist, unheimlich ruhig, und schon einige Male als Marcello und Vincent draußen beim Essen saßen und redeten, war vom Horizont, an der Stelle wo das Blutrot am hellsten glühte, ein Grollen zu hören, als ob dahinter ein fürchterlicher Krieg tobt. Tag für Tag wurde es lauter und die Vibrationen stärker. Es war beiden klar, dass eine Phase zu Ende gehen würde, dass sie sich vielleicht bald für immer trennen müssten, und möglicherweise etwas Schlimmes unaufhaltbar auf sie zurollt.
In der Nacht wurden beide aus den Strohbetten gerissen, da die Erde bebte und ihre Höhle auseinander bröckelte. Marcello wurde von einem Stein am Kopf getroffen und war auf der Stelle tot. Draußen sah Vincent überhaupt nichts denn, es war finster und stürmte. Das Brausen des Windes wurde nur von dem jetzt stoßweise auftretendem Grollen übertönt. Im Licht des plötzlichen Blitzes entdeckte Vincent ein gigantisches Ungeheuer, ein echsenartiges, unklar abgegrenztes Wesen mit dem Körper einer Schlange, der Kopf glich dem Kopf eines Pferdes, allerdings mit scharfen Zähnen. Vincent rannte los, sah nichts und zitterte. Er stürzte mehrmals und zog sich ein paar erhebliche Fleischwunden an den Armen und Beinen zu. Nachdem er einen finalen Fall absolvierte und sich ein starrer Ast in seinen Körper bohrte in der Nähe der linken Niere, blieb er auf dem Rücken liegen und blickte in Richtung des Monsters ins Dunkel. Nichts passierte. Zweieinhalb Stunden später dämmerte es ein wenig und Vincent sah in dem spärlichen Licht wie das Ungeheuer auf jedes Fleckchen Landschaft einschlug, Bäume ausriss und Wiesen umgrub. Noch war es weit weg, und Vincent erkannte wie riesig das Vieh sein musste. Unsicher, ob die unerträgliche Hitze ein körperliches Symptom oder reeller Temperaturwechsel sei, spürte Vincent sein Bewusstsein schwinden. Ihm kreisten Linien und Formen vor den Augen, wie sie einem Gemälde von Miro entstammen konnten und dazwischen wie ätherisch sah er Marcello lachen, und die Frau vom Bahnsteig, ihr Kleid unendlich lang und weich und er hat das Gefühl, das er beim Sex mit ihr spürte und manchmal mit Marcello. Und dann sieht er noch ein Gesicht, und es kommt ihm unheimlich bekannt vor, doch er hat es noch nie gesehen. Sie ähnelt seiner Mutter und sie ähnelt ihm selbst und er sieht in ihr die Tonscherben. Er sieht in ihr die Zukunft und ist sich jetzt sicher, dass er eine hat und entschwindet.

Marcello läuft lachend durch den Raum aus einem Miro, hinter ihm ein Olivgrün, vor ihm ein warmes Gelb, durchzogen von schwarzen Linien, in weiter Ferne ein runder Fleck zur Hälfte schwarz, zur Hälfte rot. Sieben Drähte schießen durch den Raum zerschneiden Marcello, dessen Mund als Tropfen weiter lacht. In acht Teile zerlegt bewegt er sich auseinander, als das Licht ausgeht und eine Tür sich öffnet. Durch die Tür tritt das Tonscherbenmädchen, blond ist sie und sieht verdammt gut aus. Sie zieht sich aus und greift sich an die Muschi, stößt einen lustvollen Laut aus. Woanders: ein Fluss rauscht durch ein Tal, ein hoher Berg trauert der Vergangenheit nach, während Wald wächst und vergeht. Von tief unter dem Meer steigen Pantoffeltierchen auf, werden auf ihrem Weg an die Oberfläche zu Freunden aus Fleisch und Blut und setzen ihren Weg fort. Als sie aus der Wasseroberfläche ausspringen glänzen die Tropfen in der Sonne. Als Menschen sitzen sie zu dritt in einem gelben Schlauchboot und fahren auf einen sehr hohen Turm zu. Marcello ist dabei, weiß es aber noch nicht, die anderen beiden sind Fremde. Er - ein Neues, eben erst entstanden ohne Geburt im zarten Alter von 24, Sie - eine Intellektuelle aus dem England des 19. Jahrhunderts einer Paralleldimension der unseren natürlich. Der Unterschied besteht in der Topographie, die Geschichte bleibt ähnlich, zumindest die europäische und die andere ist zur Umschreibung dieser eingebildeten Trotzdem-Naiven nicht relevant. Marcello rudert, während sie dem jungen Mann zu verstehen gibt, dass er ihr die hohen Schnürschuhe ausziehen soll. Dieser gehorcht und bewundert die bleichen Beine der Frau. Sie trägt ein weißes Kleid und einen Unterrock, einen gelben Strohhut mit Blumengesteck und einen kleinen Sonnenschirm, der junge Mann ist nackt und errötet gerade, weil er befürchtet einen Ständer zu bekommen, und Marcello trägt einen braunen Anzug, wie aus unseren Siebzigern mit Weste und schwarzer Krawatte. Als die Dame den jungen Mann zurechtweist, er möge doch vorsichtiger zu Werke gehen, gibt Marcello einen genervten Laut von sich und schüttelt den Kopf. “Was ist? Sie benehmen sich sehr unhöflich, sie scheinen mir ein sehr roher Mensch und von schlechter Gesellschaft zu sein. Was sind sie - Schlosser, Seemann?” fragt die Puppe. “Ich bin ein Nehmender und verachte Bürgerlichkeit” - “Nehmender, nehmen sie sich gefälligst zusammen und sein sie Bringender in Gegenwart einer Frau. Ich darf mir doch ihre Ergebenheit wünschen” - “Ich bringe nur zum Schweigen und ergebe mich nur wunschlos dem Rausch. Hoffentlich ist das nur ihr Kostüm für die verlassene vornehme Gesellschaft, denn dann können sie es jetzt ablegen und mit Nackten nackt sein”. Der junge Mann fühlt sich angesprochen: ” Wo wir gerade beim Thema sind, können sie mir vielleicht eine Hose und ein Hemd leihen, sie tragen doch bestimmt noch etwas darunter.?” Marcello gibt ihm Jackett und Hose und rudert in Weste und langer Unterhose weiter.
Am Turm angelangt gibt es keine Möglichkeit anzulegen, der Turm endet direkt im Wasser und scheint nach unten noch weit in die Tiefe zu reichen.
Nach einigen erforschenden Runden um den Turm ließ sich empirisch vorerst nur feststellen , dass dieser umfangreicher ist als er zunächst schien, eine Anlegestelle war nicht auszumachen, allerdings fand man in etwa 3 Meter Höhe über dem Wasserspiegel eine Tür. Marcello schlussfolgerte man müsse auf die Flut warten. Er schlussfolgerte richtig.

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