Montag, 12. September 2011

Mondaffe aß die Wolken auf - Kapitel 15


Kapitel 15

Wir erinnern uns: Vincent, der Totgeborene, hat erst einmal Glück gefunden im parallelen Universum, dem er entstammt. Und obwohl es anders sein müsste, ähnelt dieses jenseitige Leben dem Unseren. Auch Marcello befindet sich augenblicklich in einem parallelen Wien, in dem Schatten und Nebel dem dritten Mann zur Flucht verhelfen, wie im Wien unserer Dimension. Wo ist der Haken? Was ist anders in der anderen Welt? Sie existiert nicht, na gut, aber wer will ernsthaft behaupten unsere Welt tue das? Gibt es Wien überhaupt, jetzt in diesem Moment, wo ich hier bin? Das Wien in meinem Kopf bestimmt nicht, denn es entstammt Filmen, obwohl ich dort war und es gesehen habe. Ich lasse meine Illusionen nicht von der Realität verdrängen. Nizza, Acapulco, Dschungel, Orient, einzig und allein der Phantasie von Menschen entstammend, die glücklicherweise weniger Wissen und größere Projektionsflächen hatten. Oder Weltall und Atlantis? Das antike Griechenland der Mythen, in dem Minotauren in Labyrinthen warten.  Nur dort kann Vincent totgeboren sein und leben. Grüß mir meine Katze Mischa! Was sich jemand ausdenkt, existiert sogleich. Den Charakter meiner Katze habe ich erfunden und darum gibt es ihn, gab es ihn und gibt es ihn noch.
Mischa sitzt auf dem Fensterbrett, neben einem Blumentopf mit Zitronenmelisse, und schaut hinaus ins vom Schneegestöber ungemütlich gemachte New York. Ich betrete den, mit dem gelben Licht einer Glühbirne erfüllten Raum und trete den Schnee von den Stiefeln. Die Katze springt vom Fensterbrett und schnurrt um meine Beine. Nachdem ich Schal und Mütze abgelegt habe, setze ich mich gleich an den Schreibtisch und beginne den Brief, ohne mir einen Tee gemacht zu haben.
Lieber Marcello,
wie gefällt es dir in Wien, ich hoffe es geht dir gut. Gerade habe ich mit Esther die Platte fertiggestellt, die Kinder werden ganz aus dem Häuschen geraten, wenn sie das hören. Sie heißt einfach „Electronic Record For Children“ und ich und Miss Nelson geben vor, in einem Raumschiff die Erde zu umkreisen und die Lieder sind ganz fantastisch und teilweise zum Mitmachen. Ich glaube ich werde demnächst ein paar Sachen aufnehmen, die dann nicht für Kinder sind. Mit Musik kann man Welten erschaffen, mit dieser Musik kann man Universen erschaffen. Wenn ich das einzelne elektronisch erzeugte Geräusch höre, ist es schon wie ein Signal aus den Tiefen des Weltraums, mit dem Raumhall und der Musik, den Akkorden und verfremdeten Instrumenten unserer Zivilisation, dem kompositorischen Wissen Bachs und den Klängen der Naturvölker entsteht eine ungeahnte Magie. Eine mystische Kraft versucht mich in meine Synthesizer und Bandgeräte hineinzuziehen und mich in elektrische und magnetische Impulse aufzulösen, manchmal wäre ich dazu bereit. Ich muss dir die Platte irgendwie zukommen lassen! Schade, dass du so weit weg bist, wo ich hier so Wenige finde, die mich verstehen und nicht für komplett irre halten.
Die Katze kratzt an meinen Lautsprecherboxen.
Das Wetter heute erinnert mich an Alberta. Hätte ich mir doch keine Hochparterre-Wohnung ausgesucht, es ist sehr kalt. Ich habe gehört, Vincent hat geheiratet, meinen Glückwunsch, falls du ihn triffst. Ich werde ihm nicht mehr schreiben. Irgendwie fühle ich keinen sonderlichen Draht mehr zu ihm, da er jetzt so erfolgreich ist und ich immernoch verzweifelt strebe, kann ich ihn nicht mehr leiden. Er stinkt mir geradezu. A Propos, die beiden Mädchen feiern jetzt auch Erfolge, haben sich sogar bei meinen Sachen bedient, alles Angreifbare rausgeschmissen und recht blutleere Ergebnisse vorzuweisen, die aber bei den altbekannten Pfeifen ausgezeichnet werden. Ich möchte dir von einem Traum erzählen, den vor zwei Wochen hatte, es war sehr interessant. Ich befand mich irgendwo im Griechenland der Antike, das wusste ich, am Wegesrand stand ich oder saß auf einem Stein. Ich glaube so ist das Bild entstanden - ich habe einmal in einem Buch über die Sagen des Altertums gelesen, Hermes oder Pelias oder wer auch immer, saß auf einem Stein am Wegesrand, und dann hatte ich dieses Bild im Kopf. Am Horizont in der einen Richtung des Pfades, nicht breiter als zwei Meter, sha ich einen Tempel, wie den der Athene. In der anderen Richtung stand ein Olivenbaum, ungefähr 100 Meter entfernt. Links und rechts vom Weg erstreckten sich weite Ebenen trockener Erde. Ein Athener kam des Weges und gab mir im ausgehölten Panzer einer Schildkröte Wein zu trinken. Wir trugen beide Chiton und Himation, allerdings konnte ich über ihm die Projektion seines nackten Körpers sehen und wusste, dass auch er ein Abbild meines Körpers über mir schweben sieht. Wir betrachteten diese genau und versuchten Vergleiche herzustellen, denn wir hatten von den Göttern den Auftrag erhalten, eine ideale Skulptur zu schaffen und den Marmor dafür wird uns Circe selbst schenken. Der Athener ging des Wegs und ich nahm Papier und Stift und zeichnete Skizzen für die Skulptur. Ich rollte die Skizzen zusammen und ging in die Richtung aus der der Athener kam, an dem Olivenbaum vorbei und gelangte an eine Meeresklippe. Tief unter mir schlug das Meer an die Felsen. Beim genaueren hinsehen, sah ich halb in eine Grotte, im Schatten elektrische Aale, die sich umkreisten. Bei diesem Anblick lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, ich fand es unerträglich. Die Aushöhlung im Stein war klein und das Wasser klatschte hart gegen die Steine, unter den Aalen ging es tief in die Kälte und vom Licht der abendlichen Sonne waren sie nur eine Armlänge entfernt. Doch sie blieben da im Halbschatten und glotzten aus ihren muränenhaften Gesichtern, während der Strom um sie zuckte und kleine Blitze erzeugte.
Liebe Grüße
Dein Bruce Haack, New York 1963

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