Montag, 12. September 2011

Mondaffe aß die Wolken auf - Kapitel 14


Kapitel 14

Marcello in Wien ahnt Kaffee. Ariadne und Vincent auf Haiti trinken Tee mit Milch und viel braunem Zucker und essen dazu Butterpläzchen. Marcello in Wien biegt in eine unbelebte, hässliche Seitengasse ein und ärgert sich deswegen. Er wendet sich um und sucht ein Café. Keins scheint gut, eins ist zu nah an der Straße, das nächste hat keinen Platz mehr in der Sonne, das nächste hat keinen Platz. Vincent auf Haiti beisst in sein Butterplätzchen, während ein Kakadu vorbeifliegt. Ariadne muss schon 30 Minuten Pipi und geht jetzt endlich. Beim Händewaschen fühlt sie sich irgendwie unwohl und kann damit garnicht umgehen, denn die Hochzeitsreise sollte sich durchgehend phantastisch anfühlen, hat sie gedacht, aber schlägt sich's aus dem Kopf und meint: Ach was, man kann auch mal schlechte Laune haben. Vincent hat jetzt Lust auf Charlie Parker und lässt einen Plattenspieler holen. Marcello hört Billie Holiday aus einem der oberen Fenster eines Wiener Mehrfamilienhauses, welches offen steht, und geschlossen liegt. Der Kaffee, den er letztendlich bekommt ist abscheulich und er ärgert sich. Der Tee mit Milch und viel braunem Zucker schmeckt ausgezeichnet und Ariadne fühlt sich wieder phantastisch und sagt zu Vincent: „Ich fühle mich phantastisch!“ und er findet das ein bisschen peinlich, lächelt sie aber an, als liebe er sie umso mehr, weil sie das gesagt hat. Marcello in Wien bezahlt seinen Kaffee und geht ins Kino und schaut sich „Flammendes Inferno“ an und Paul Newman und Steve McQueen retten Menschen aus loderndem Turm und es dauert sehr lange. Als er das Kino verlässt ist es bereits dunkel. Marcello geht ins Hotel und will nicht nochmal raus, und weil es erst neun Uhr ist und das Fernsehprogramm hoffnungslos ist, setzt er sich aufs's Bett und weiß erstmal nicht was nun. Er bestellt beim Zimmerservice eine Flasche Champagner und verlangt ein Radio. Im Radio läuft Barbra Streisand und sie singt ein Lied, welches „My Lord And Master“ heisst und, wenn Marcello nicht alles täuscht, eine Rodgers and Hammerstein – Komposition ist. Um 9:30 Uhr abends aus einem Hotel in die Wiener Nacht schauen und Barbra Streisand einen Rodgers and Hammerstein-Song im Radio singen hören ist ein ganz komisches Gefühl. Es ist äußerst traurig, aber es ist einem nicht nach Weinen zumute, es ist unaushaltbar, aber man will das es am besten nie aufhört. Marcello beschließt, sich morgen eine Barbra Streisand-Platte zu kaufen oder ein Rodgers And Hammerstein-Musical im Kino anzusehen. Auf Haiti während der Hochzeitsreise mit der Braut auf dem Schoß Charlie Parker im Schallplattenspieler Altsaxophon spielen hören ist ein ganz komisches Gefühl. Ein ganz kosmisches Gefühl. Das schwarze Meer teibt in der Dunkelheit beschaulich sein Spiel und schwappt müde Wellen an den kalten Strand. Die Veranda glimmt orange und gelb von schwachen Flämmchen. Und während man ins Nichts starrt, keinen Horizont sieht und fast böse und gewalttätig die weißen Sterne herabstechen mit eisernen Klingen, baut Charlie Parker diesen kleinen Raum um einen herum, diese sonntagmorgentliche Küche mit geöffnetem Fenster, die lange schon nicht mehr ist und für ewig da sein wird, länger als die kalten, tödlichen Sterne in ihrer Blässe. Ariadne empfindet ganz genauso, denkt aber ganz anders darüber, denkt an gefundenes Liebesglück und verronnene Tränen, deren Grund sie vergessen hat, und hat Angst, weil nach einem Klimax ein Abgang kommen muss, und Höhepunkt an Höhepunkt gereiht ungenießbar ist.

Marcello hasst diesen Kerl. Was hat er nur anfänglich an ihm gefunden, dass er all diese Fehler übersah. Gut, man ist erst einmal fasziniert von dieser Energie, die von ihm ausgeht. Wenn er sich für etwas begeistert, kann er leicht mitreißen, und er interessiert sich für so vieles und erhascht mit rasender Geschwindigkeit immer mehr Information und Schönheit der Welt und teilt sie mit. Vieles eröffnet sich als größer und großartiger, als es schien, durch seinen Blick. Anderes hatte Marcello schon als stumpfsinnig abgetan und in seinem Licht erstrahlte es als unerschöpflicher Quell der Freude. Mondäne Genüsse, dekadente Manier und intellektuellen Exzess in ihrer unschuldigen Reinheit zelebrieren, ohne sich dabei dumm vor zukommen, aber auch Konsumrausch und Egopflege und Gier nach Input. Neue Öffnung zum Egoismus und zur Egomanie, aber auch zu mehr sozialer Inszenierung, Konversation mit Fremden, Tanz und Spiel und Suff und Rausch. Hedonismus ohne die Schattenseiten, denn man ist ja gut, und man ist ja nicht tatsächlich Egoist und Egomane und verletzt niemanden dabei und steckt andere an mit seiner Freude.(...) Aber wenn er etwas hasst, kennt er kein Mitleid, wenn sein Geschmack nicht angeregt wird, bringt er kein Verständnis auf. „Das...“ betont er mit erhobenem Haupt“...ist das größte Stück Scheiße, das ich je gesehen hab“. Er möchte sich nicht damit beschäftigen, das regt ihn nur auf. Wenn dir das gefällt, viel Spaß damit, aber er findet es abscheulich. Marcello versteht das nicht. Wie kann man nur so sein. Marcello findet auch nicht alles umwerfend, und manche Dinge weisen kleine Mängel auf und über andere weiß er manchmal wirklich nicht so leicht Urteil fällen, und belässt es manchmal dabei. Und direkt nach dem Kino will Marcello nicht „Wundervoll!“ hören und nicht „Absoluter Mist!“, auch nicht von den Mädchen ohne eigene Meinung, die so schnell dem Urteil dieser Person folgen. Ein bisschen langweilig können die Dinge sein oder man fühlt, dass man irgendwie nicht versteht, was es soll oder naiv und oberflächlich und ja, manchmal können sie auch wirklich Mist sein, aber nicht so oft und nicht so schnell und nicht diese Dinge. Jetzt jedenfalls hasst Marcello diesen Kerl, der den Film soo schrecklich fand, und der den ganzen Heimweg lauthals beklagt und verurteilt. Marcello fand ihn gut, vielleicht sogar ausgezeichnet, aber jetzt ist er sich nicht mehr sicher. Dieser Arsch hat alles versaut, noch während des Films musste er Marcello „Was für ein unglaublicher Mist“ zuraunen, im ersten Drittel, der Affe. Und diese dummen Gänse, die gleich „ja“ und „schrecklich“ hinzufügen, nach seiner Tirade, die hasst Marcello auch. Sonst schreien sie immer „Sehr, sehr gut... so stark“ und „Ich war wirklich bewegt“ und ähnlichen Mist und schämen sich nicht mal dafür. So was sagt Marcello nicht einmal, wenn er es wirklich denkt, und die wissen gar nicht, was das heißt. Sonst hat er sie ja ganz gern und kann den ganzen Tag mit ihnen plaudern und Scherze machen, aber über Filme rezensieren, oder Musik oder Kunst, das soll'n sie doch mal lieber bleiben lassen, die dummen Hühner. „Mit diesem Typ“ denkt Marcello jetzt „ist nur gut auskommen, wenn wir einer Meinung sind. Ich sollte auf Distanz bleiben. Als wirklich enger Freund ist mir das zu nervenaufreibend, und ich bin zu verletzlich für so etwas. Pech gehabt, Junge.“ Und  die Wege trennten sich, und die drei Monate in Wien sollten bald unter neuen Erfahrungen begraben sein. Und übrig blieben nur gute Erinnerungen, nur das im Kaffee sitzen, und der spezielle Humor, der entstanden war, und die Dinge, die man einander zeigte und die den jeweils anderen dann auch faszinierten und die beiden neue Welten eröffneten.

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