Kapitel 15
Wir erinnern uns: Vincent, der Totgeborene, hat
erst einmal Glück gefunden im parallelen Universum, dem er entstammt. Und
obwohl es anders sein müsste, ähnelt dieses jenseitige Leben dem Unseren. Auch
Marcello befindet sich augenblicklich in einem parallelen Wien, in dem Schatten
und Nebel dem dritten Mann zur Flucht verhelfen, wie im Wien unserer Dimension.
Wo ist der Haken? Was ist anders in der anderen Welt? Sie existiert nicht, na
gut, aber wer will ernsthaft behaupten unsere Welt tue das? Gibt es Wien
überhaupt, jetzt in diesem Moment, wo ich hier bin? Das Wien in meinem Kopf
bestimmt nicht, denn es entstammt Filmen, obwohl ich dort war und es gesehen
habe. Ich lasse meine Illusionen nicht von der Realität verdrängen. Nizza,
Acapulco, Dschungel, Orient, einzig und allein der Phantasie von Menschen
entstammend, die glücklicherweise weniger Wissen und größere Projektionsflächen
hatten. Oder Weltall und Atlantis? Das antike Griechenland der Mythen, in dem
Minotauren in Labyrinthen warten. Nur dort
kann Vincent totgeboren sein und leben. Grüß mir meine Katze Mischa! Was sich
jemand ausdenkt, existiert sogleich. Den Charakter meiner Katze habe ich
erfunden und darum gibt es ihn, gab es ihn und gibt es ihn noch.
Mischa sitzt auf dem Fensterbrett, neben einem
Blumentopf mit Zitronenmelisse, und schaut hinaus ins vom Schneegestöber
ungemütlich gemachte New York. Ich betrete den, mit dem gelben Licht einer
Glühbirne erfüllten Raum und trete den Schnee von den Stiefeln. Die Katze
springt vom Fensterbrett und schnurrt um meine Beine. Nachdem ich Schal und
Mütze abgelegt habe, setze ich mich gleich an den Schreibtisch und beginne den
Brief, ohne mir einen Tee gemacht zu haben.
Lieber Marcello,
wie gefällt es dir in Wien, ich hoffe es geht
dir gut. Gerade habe ich mit Esther die Platte fertiggestellt, die Kinder
werden ganz aus dem Häuschen geraten, wenn sie das hören. Sie heißt einfach
„Electronic Record For Children“ und ich und Miss Nelson geben vor, in einem
Raumschiff die Erde zu umkreisen und die Lieder sind ganz fantastisch und
teilweise zum Mitmachen. Ich glaube ich werde demnächst ein paar Sachen
aufnehmen, die dann nicht für Kinder sind. Mit Musik kann man Welten
erschaffen, mit dieser Musik kann man Universen erschaffen. Wenn ich das
einzelne elektronisch erzeugte Geräusch höre, ist es schon wie ein Signal aus
den Tiefen des Weltraums, mit dem Raumhall und der Musik, den Akkorden und
verfremdeten Instrumenten unserer Zivilisation, dem kompositorischen Wissen
Bachs und den Klängen der Naturvölker entsteht eine ungeahnte Magie. Eine
mystische Kraft versucht mich in meine Synthesizer und Bandgeräte
hineinzuziehen und mich in elektrische und magnetische Impulse aufzulösen,
manchmal wäre ich dazu bereit. Ich muss dir die Platte irgendwie zukommen lassen!
Schade, dass du so weit weg bist, wo ich hier so Wenige finde, die mich
verstehen und nicht für komplett irre halten.
Die Katze kratzt an meinen Lautsprecherboxen.
Das Wetter heute erinnert mich an Alberta.
Hätte ich mir doch keine Hochparterre-Wohnung ausgesucht, es ist sehr kalt. Ich
habe gehört, Vincent hat geheiratet, meinen Glückwunsch, falls du ihn triffst.
Ich werde ihm nicht mehr schreiben. Irgendwie fühle ich keinen sonderlichen
Draht mehr zu ihm, da er jetzt so erfolgreich ist und ich immernoch verzweifelt
strebe, kann ich ihn nicht mehr leiden. Er stinkt mir geradezu. A Propos, die
beiden Mädchen feiern jetzt auch Erfolge, haben sich sogar bei meinen Sachen
bedient, alles Angreifbare rausgeschmissen und recht blutleere Ergebnisse
vorzuweisen, die aber bei den altbekannten Pfeifen ausgezeichnet werden. Ich
möchte dir von einem Traum erzählen, den vor zwei Wochen hatte, es war sehr
interessant. Ich befand mich irgendwo im Griechenland der Antike, das wusste
ich, am Wegesrand stand ich oder saß auf einem Stein. Ich glaube so ist das
Bild entstanden - ich habe einmal in einem Buch über die Sagen des Altertums
gelesen, Hermes oder Pelias oder wer auch immer, saß auf einem Stein am
Wegesrand, und dann hatte ich dieses Bild im Kopf. Am Horizont in der einen
Richtung des Pfades, nicht breiter als zwei Meter, sha ich einen Tempel, wie
den der Athene. In der anderen Richtung stand ein Olivenbaum, ungefähr 100
Meter entfernt. Links und rechts vom Weg erstreckten sich weite Ebenen
trockener Erde. Ein Athener kam des Weges und gab mir im ausgehölten Panzer
einer Schildkröte Wein zu trinken. Wir trugen beide Chiton und Himation,
allerdings konnte ich über ihm die Projektion seines nackten Körpers sehen und
wusste, dass auch er ein Abbild meines Körpers über mir schweben sieht. Wir
betrachteten diese genau und versuchten Vergleiche herzustellen, denn wir
hatten von den Göttern den Auftrag erhalten, eine ideale Skulptur zu schaffen
und den Marmor dafür wird uns Circe selbst schenken. Der Athener ging des Wegs
und ich nahm Papier und Stift und zeichnete Skizzen für die Skulptur. Ich
rollte die Skizzen zusammen und ging in die Richtung aus der der Athener kam,
an dem Olivenbaum vorbei und gelangte an eine Meeresklippe. Tief unter mir
schlug das Meer an die Felsen. Beim genaueren hinsehen, sah ich halb in eine
Grotte, im Schatten elektrische Aale, die sich umkreisten. Bei diesem Anblick
lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, ich fand es unerträglich. Die
Aushöhlung im Stein war klein und das Wasser klatschte hart gegen die Steine,
unter den Aalen ging es tief in die Kälte und vom Licht der abendlichen Sonne
waren sie nur eine Armlänge entfernt. Doch sie blieben da im Halbschatten und
glotzten aus ihren muränenhaften Gesichtern, während der Strom um sie zuckte
und kleine Blitze erzeugte.
…
Liebe Grüße
Dein Bruce Haack, New York 1963